Das Dritte Moor
Schwinger hat mit seinem Romanerstling
einen famosen Mix aus Geschichtsrecherche,
Familienchronik, psychologischen Studien
und blankem Horror vorgelegt. Man kann
ohne weiteres Geld darauf setzen, dass man
sich diesem Buch nicht entziehen kann.
Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Arno Russegger
Robert Musil Institut der Universität
Klagenfurt / Kärntner Literaturarchiv
Es brodelt im Sumpf des Vergessens
Harald Schwinger legt mit "Das dritte Moor" seinen Debütroman vor,
ein starkes Buch zum Thema Nazi-Euthanasie.
SUSANNE KOSCHIER
Der Jugendliche Foka findet in der Wohnung eines Arztes ein Album.
Darin befinden sich hunderte Kinderzeichnungen. "Vielleicht war
Weisskopf ja Kinderarzt und die behandelten Kinder mussten ihm als
Dankeschön ein Bild malen". Foka entdeckt auch ein ausgestopftes
Meerschweinchen, Zeugnis einer irritierenden Tierliebe: "Hast du
gewusst, dass man dich auch verspeist? Die Welt ist grausam. Aber
keine Angst. Wir hier tun so etwas nicht. Wir sind schließlich
keine Barbaren".
So legt Harald Schwinger Spuren, die den Leser längst verstören
bevor er zum eigentlichen Kern seines Debütromans vorstoßt: dem
Euthanasieprogramm der Nazis an Kindern.
Schwinger beschreibt drei Familien, mit vielfältigen Details zu
Zeugung, Schwangerschaft und Geburt der Buben Niko, Max und Foka,
deren Lebensläufe auf erschreckend fatale Weise miteinander
verknüpft sind. Die entsetzlichen Vorgänge in einer Kinderklinik
des Dritten Reichs vermittelt der Autor in einer überaus kühlen,
distanzierten Sprache aus der Sicht des bestialischen Arztes.
Gleichzeitig treibt er die Spannung der in Rückblenden und
Einschüben erzählten Handlung voran. Auch mit thrillerhaften
Momenten hält Schwinger die Bedrohung ständig präsent.
Ort der Handlung ist ein Moor: Dieses beginnt zu brodeln, begehrt
auf, die Rufe der in ihm versenkten Leichen verschaffen sich über
die Wasserhähne hindurch Gehör. So wird die Natur zum Sinnbild dafür,
dass Vergessen und Schweigen nicht zur Absolution führen kann.
Die Schuld der Väter teilt den Söhnen schicksalhaft eine
Wiedergutmachungsrolle zu. Durch die Personalisierung des Moores
hebt Schwinger seinen Text auf eine poetische Ebene, die dem Grauen
der zeitgeschichtlichen Fakten ein starkes literarisches
Gegengewicht verschafft.
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Harald Schwinger
Das dritte Moor Roman.
Klagenfurt, Wien: Wieser Verlag, 2006.
482 S.; brosch.; Eur(A) 20,40.
ISBN: 3-85129-579-X.
Niko kommt geistig behindert zur Welt. Mit seiner Geburt im Jahre 1937 irgendwo in der (österreichischen) Provinz, nahe einem Moor, beginnt der Erstlingsroman "Das dritte Moor" von Harald Schwinger. Mit dem Tod von Foka in eben jenem Moor wird er enden, in der Gegenwart. Dazwischen, auf immerhin fast 500 Seiten, werden die Lebensläufe dreier Familien erzählt, über drei Generationen hinweg, deren Geschichten unheilvoll miteinander verstrickt sind. Eines sei gleich zu Beginn verraten: die Geschichten lassen einen bis zum Schluss nicht mehr los.
Niko kann nicht sprechen. Sein Schädel bleibt kahl. Der Vater kann den behinderten Sohn nicht akzeptieren, beschimpft das Kind als Idioten, beginnt, sich und seine Frau zu verachten. Der Junge sucht Zuflucht bei den Sumpfgeistern im nahe gelegenen Moor, an die er glaubt und vor denen ihn seine Mutter immer warnt. Er fühlt sich von den Sumpfgeistern, die für ihn lebendig sind, getröstet. Diese neue Geborgenheit währt allerdings nur kurz: Denn Niko wird von den Nazis in eine Klinik geschafft, in der Mediziner Experimente an behinderten Kindern durchführen und sie brutal umbringen. Er wird von dem von Ehrgeiz zerfressenen Arzt dazu auserkoren, einen Kältetest zu bestehen - eine menschenverachtende Wette mit einem Medizinerkollegen.
Die ersten Hinweise auf ein unheimliches Geschehen verdichten sich immer mehr zur Wahrheit: Das Moor ist die Endstation, in ihm werden die Kinderleichen versenkt. In seinen "tausend Augen" - Nikos Sumpfgeistern - bewahrt es die Erinnerung an diese grausamen Verbrechen. Mehr noch: das Moor wird die Täter und ihre Nachkommen anziehen und Sühne fordern.
Max hat in der "Spezialklinik" gearbeitet und sich am Tod der Kinder mit schuldig gemacht. Er hat das Haus am Moor, in welchem Niko geboren wurde, unter den Nazis erhalten. Max übersteht den Krieg und auch die Entnazifizierung, aber er kann keine Ruhe finden. Er will seinen Sohn dem Moor opfern, um sich von seinen Schuldgefühlen zu befreien. Nur seine Frau kann ihn in letzter Sekunde davon abhalten.
Foka zieht nach dem Tod seiner Mutter - als Erwachsener, in der Gegenwart - in das Haus am Moor. Die Vergangenheit holt ihn ein, denn erst hier erfährt er, wer seine richtigen Eltern sind. Foka wird von Albträumen heimgesucht: "Das Tier ist Foka bereits vertraut, auch der Schrei, der ihn regelmäßig aus dem Schlaf hochpeitscht. Aber damals wusste er noch nicht, dass er dieses Tier war, noch konnte er ahnen, dass er und das Tier eins waren." Foka verändert sich immer mehr und wird seiner Frau völlig fremd. Erst mit Fokas Untergang im Moor ist die Schuld gesühnt.
Das Moor ist Handlungsort und zugleich handlungstreibende Kraft, lebendig geworden durch die in ihm ruhenden Seelen. Es ist ein starkes Bild für Mahnung und Erinnerung - dem Autor ist mit der Beschreibung dieser Naturkraft eine stimmige Metapher dafür gelungen, dass es unmöglich ist, sich der Vergangenheit zu entziehen. Schlussendlich übt die Natur Gerechtigkeit, wo die Menschen versagt haben. Die ungestrafte Schuld wird hier über Generationen weiter vererbt und kehrt als zerstörerischer Albtraum wieder.
Euthanasie im Dritten Reich ist immer noch ein tabuisiertes Thema. Bis heute ist nicht die ganze Wahrheit über die Ausmaße und die Verstrickungen von Ärzten und anderen Tätern bekannt. Harald Schwinger hat dieses Thema - und im Kern die Frage nach Schuld und Sühne - in einen spannenden Roman verpackt. Die Geschichten sind nicht chronologisch erzählt, Personen und Jahrzehnte werden so miteinander verwoben, dass der Leser/die Leserin die Zusammenhänge zwischen den Lebensläufen der einzelnen Figuren allmählich, von Kapitel zu Kapitel, aufdeckt; Zusammenhänge, von denen die Personen selbst nichts wissen. Der Autor spielt geschickt mit Verdachtsmomenten, die Hinweise auf den weiteren Verlauf geben. So fügt sich langsam das ganze Bild der Ereignisse zusammen. Weder Orte noch Personen noch Geschehnisse sind historisch identifizierbar, aber genauso hätte sich alles abspielen können - gerade in dieser Allgemeingültigkeit entwickelt der Roman seine Stärke.
Ivette Löcker 9. Oktober 2006